Schlimmer als während der Militärdiktatur

Erdogans Türkei wird zunehmend autoritär. Was das für den Alltag in den kurdischen Gebieten bedeutet, erfuhr eine Delegation des Vereins Städtepartnerschaft Basel-Van bei einem Besuch in Ostanatolien. Ein Gastbeitrag.

Wer die türkische Fahne schwingt, gehört zu den Guten. Alle anderen müssen sich vorsehen.

Geschäftiges Treiben herrscht im Zentrum von Van. Moderne Gebäude glitzern im gleissenden Sonnenlicht, überall werden neue gebaut. Historische Gebäude gibt es keine. Die Altstadt war im Krieg 1915 schwer beschädigt und aufgegeben worden. 1950 und 2011 wurde die «neue» Stadt Opfer heftiger Erdbeben.

Erst auf den zweiten Blick bemerkt man die ungewöhnlich hohe Präsenz von gepanzerten Militärfahrzeugen und bewaffneten Sicherheitskräften. An strategisch wichtigen Punkten stehen Betonblöcke. Türkische Fahnen auf markanten Gebäuden und entlang vieler Strassen verstärken den Eindruck einer besetzten Stadt.

Vertrauen braucht Zeit

Das Zentrum für Folterbetroffene ist in einem unauffälligen Bürohaus untergebracht. Es besteht aus ein paar Zimmern, Küche und WC. Eröffnet wurde es Anfang 2018 von der türkischen Stiftung für Menschenrechte (TIHV). Möglich gemacht hat dies unter anderem die Unterstützung durch den Basler Verein Städtepartnerschaft Basel-Van.

Der Generalsekretär der Stiftung, Metin Bakkalci, empfängt die Delegation aus der Schweiz zusammen mit einer Ärztin und einer Pflegefachfrau. Die 1990 gegründete Stiftung betreibt derzeit sechs solcher Zentren in der Türkei mit wenigen Festangestellten und vielen Freiwilligen. 1998 wurde ein erstes Zentrum auf kurdischem Gebiet in Diyarbakir eröffnet. 2015 folgte ein zweites in Cizre, nun jenes in Van. «Das ist nötig, um den traumatisierten Menschen im ganzen kurdischen Gebiet bis Hakkari und Yüksekova wirklich helfen zu können», erklärt Bakkalci.

Aysel*, die Ärztin des Zentrums, untersucht die Ankommenden und klärt ab, was sie brauchen. Betreut werden Personen, die lange Gefängnisstrafen hinter sich haben, in Untersuchungshaft gefoltert wurden oder an Demonstrationen und Wahlkampfveranstaltungen Gewalt ausgesetzt waren. Vielen wurde während ihrer langen Haftstrafen medizinische Betreuung verwehrt.

Seit der Eröffnung haben 23 Personen, darunter fünf Kinder, die Stelle aufgesucht. «Es braucht Zeit, bis die Leute uns kennen und Vertrauen fassen. Vielen fällt es zudem nicht leicht, über ihre Erfahrungen zu sprechen», erklärt die Ärztin.

«Angst schützt uns nicht vor dem Tod»

Nazli*, die Pflegefachfrau, wird konkreter: «Eine ganze Familie suchte uns auf. Sie waren alle verhaftet worden, Grossvater, Kinder und Eltern, nachdem in der Nähe ein Anschlag geschehen war. Unter Folter sollten sie den Täter nennen, den sie nicht kannten.» Für einen Sekundenbruchteil füllen sich ihre Augen mit Tränen.

«Die Gewalt dient auch der Einschüchterung der andern», sagt Nazli. «Eine Mutter wurde vor den Augen ihres vierjährigen Sohnes in ihrer Wohnung geschlagen. Als er versuchte, seiner Mutter zu helfen, wurde auch er geprügelt. Die Sicherheitskräfte sorgten dafür, dass ihre Schreie in der ganzen Nachbarschaft zu hören waren.»

Bei traumatisierten Menschen bespricht Aysel mit einem Psychiater, ob eine Therapie sinnvoll ist oder ob soziale oder juristische Hilfe benötigt wird. Therapien macht der Psychologe Baris*, der mit dem Psychiater in einer Praxis zusammenarbeitet. Baris* ist auch Psychotherapeut und hat sehr viel Erfahrung mit traumatisierten Menschen.

Als der IS 2014 die Jesiden im Nordirak angriff, flohen Tausende in die Türkei. In der Nähe von Diyarbakir hatte die Stadt – damals unter Verwaltung der prokurdischen HDP – ein Lager für sie errichtet. Baris leitete dort die psychologische Unterstützung. Als die Regierung zahlreiche HDP-Bürgermeisterinnen und -Bürgermeister absetzte und die Städte unter Zwangsverwaltung stellte, wurde das Lager geschlossen.

«Die Leute wurden in ein Zivilschutzlager und andere Städte umquartiert. Viele versuchten, nach Europa zu gelangen, andere zurück in den Irak», erzählt Baris. Er selber verlor seine Staatsstelle, erneute Bewerbungen wurden abgelehnt. Ausserdem läuft ein Verfahren gegen ihn, das bereits zu einer erstinstanzlichen Verurteilung geführt hat. «Ich weiss nicht wofür. Die Anschuldigungen stammen vom Geheimdienst und sind deshalb nicht einsehbar.»

Eine Stadt unter Besatzung: Betonsperren in Van.

Der Präsident der Anwaltskammer von Van zeichnet ein düsteres Bild der türkischen Justiz. Drei Hochsicherheitsgefängnisse stehen allein in seiner Stadt, nebst etlichen «normalen» Haftanstalten. Seit dem Putsch seien alle Richter durch AKP-Getreue ausgetauscht worden, deren Rechtsprechung nicht mehr viel mit Gesetzen zu tun habe.

Im Visier hätten sie vor allem kurdische Politiker und Menschenrechtlerinnen. So entbehrten die Anschuldigungen gegen Bekir Kaya, den HDP-Bürgermeister von Van, der 2016 ebenfalls seines Amtes enthoben und verhaftet worden ist, jeglicher juristischen Grundlage.

Unter anderem wird ihm vorgeworfen, einen Verein gegen die Armut mit Steuergeldern unterstützt zu haben, obwohl Kaya die Gründung des Vereins vom Innenministerium, den Revisoren und dem Gouverneur der Regierung hatte gutheissen lassen. Auch Juristen riskieren, belangt zu werden. Es könnte auch den Präsidenten der Anwaltskammer treffen, der zugleich Kayas Anwalt ist. Die Lage sei inzwischen schlimmer als zur Zeit der Militärdiktatur. Angst sei aber ein schlechter Ratgeber, meint Kaya: «Sie schützt uns nicht vor dem Tod.»

Auch wenn Van von den Kämpfen nach dem Ende der Friedensgespräche 2015 weniger betroffen war als andere Städte, wurden auch hier Dutzende Menschen umgebracht. Viele wurden entlassen wie auch Aysel, deren Namen im Spital plötzlich auf einer Liste stand. Insgesamt wurden 73 Ärztinnen und Ärzte in Van aus dem öffentlichen Dienst abgesetzt – ohne Begründung. Inhaftierungen und Vertreibung sind ebenfalls Teil der Repression, in deren Folge die Existenzgrundlage von Tausenden zerstört wurde.

Eine inzwischen verbotene Hilfsorganisation versucht, die Notleidenden mit Wohnungsbau und Nahrungsmittelpaketen zu unterstützen. Wo möglich versuchen die Koordinatorinnen, arbeitsfähigen Mitglieder der Familien eine Stelle zu verschaffen oder reiche Verwandte zur Hilfe zu bewegen. «Da wir im Untergrund arbeiten müssen, ist alles noch viel schwieriger geworden; wir können keine öffentlichen Aufrufe machen. Wir sind nicht mehr imstande, alle zu unterstützen, die es nötig haben», erklärt Selma*, eine der Koordinatorinnen.

Frauentreffpunkt wurde zu einem Männerprojekt

Unangemeldet besucht die Delegation die Wäscherei Maya, ein Projekt von Gülcihan Simsek, der ehemaligen Bürgermeisterin des Stadtteils Van-Bostanici, das sie 2008 mit Hilfe des Vereins aus der Schweiz errichtet hat. Es diente vielen Frauen auch als Treffpunkt und war ein Ort, wo sie in Bereichen wie Gesundheit und Familienplanung beraten wurden, Lesen und Schreiben lernen sowie Kleider nähen konnten.

Das Gebäude ist offen und unversehrt. Auch eine Nähstube existiert noch. Doch der Schriftzug ist entfernt worden und an den Wänden in den Zimmern prangen Bilder von Atatürk. Fast alle Frauen, die die Besucher freundlich empfangen, tragen ein Kopftuch. Auf die Frage, wo die Frauen seien, die früher hier gearbeitet haben, meinen sie, niemand sei entlassen worden. Sie seien freiwillig gegangen oder hätten geheiratet. Wenig später stehen rund zehn Männer im Hof, Vertreter der Zwangsverwaltung der Gemeinde. Sie sind offensichtlich von einer Mitarbeiterin alarmiert worden.

Früher war diese Wäscherei ein Treffpunkt selbstbestimmter Frauen. Nun ist es ein Ort, an dem die traditionellen Rollen fortgeschrieben werden.

«Jetzt dominieren hier die Männer», stellt Martin Flückiger, Copräsident des Vereins Städtepartnerschaft Basel-Van fest. «Mit dem Projekt, das wir unterstützt haben, hat diese Institution rein gar nichts mehr zu tun. Hier sollen Frauen auf ihre traditionelle Rolle im Haus und am Herd vorbereitet werden.»

Das Bildungs- und Beratungszentrum, das Simseks Nachfolgerin im Amt der Bürgermeisterin, Nezahat Ergünes, 2013 ebenfalls mit Hilfe des Vereins gebaut hatte, ist geschlossen worden und soll einer regierungsfreundlichen Institution übergeben werden. Ergünes musste ihre Heimat verlassen und lebt unterdessen als anerkannter Flüchtling in der Schweiz.

https://tageswoche.ch/politik/solange-nicht-alle-ethnien-akzeptiert-sind-wird-es-keine-demokratie-geben/

Die Kelim-Werkstatt, eine Teppichweberei, die der Verein seit 2000 unterstützt, kämpft um ihre Existenz. Die Zwangsverwaltung hat zwei der Ateliers übernommen. Das ficht der Leiter der Werkstatt juristisch an. Das Verfahren ist noch offen. Trotz seiner Bemühungen, neutral zu bleiben und sich von politischen Querelen fernzuhalten, geht die Regierung nun auch gegen die Kelim-Werkstatt vor. Damit verlieren Dutzende von Frauen ein Einkommen und Bildungsmöglichkeiten.

Und was ist, wenn auch das Zentrum für Folterbetroffene geschlossen werden sollte? TIHV-Generalsekretär Metin Bakkalci zuckt die Schultern: «Wir haben schon vor unserer Gründung Folterbetroffenen geholfen. Wir würden es auch nach einer allfälligen Schliessung tun.» Die Menschen in Van stehen unter Druck, gebrochen hat sie Erdogan aber noch nicht.

*Name geändert

Verein Städtepartnerschaft Basel-Van

Der Verein Städtepartnerschaft Basel-Van wurde im November 2000 von Migranten und Schweizerinnen in Basel gegründet mit dem Zweck, in der Schweiz auf die prekäre Situation in den kurdischen Gebieten der Türkei aufmerksam zu machen und konkret zur Linderung der Notlage in der kurdischen Stadt Van beizutragen. In den ersten Jahren unterstützte der Verein den Aufbau und die Konsolidierung einer Kelim-Werkstatt (Teppichweberei). Später half er beim Aufbau einer Wäscherei in Van-Bostanici sowie eines Bildungs- und Beratungszentrums für Frauen. Dafür hatte er auch Gelder der Kommission für Entwicklungszusammenarbeit des Kantons Basel-Stadt erhalten. Seit 2017 unterstützt der Verein das Zentrum für Folterbetroffene in Van.

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