Mit Sibel Arslan zieht die erste kurdische Migrantin in den Nationalrat ein. Aber das ist ihr egal. Sie sei es leid, nur auf ihren Migrationshintergrund reduziert zu werden, sagt die 35-Jährige.
Die Fähigkeit, die Fassung zu bewahren, hat sich Sibel Arslan nach all den Turbulenzen um ihre Person mittlerweile angeeignet. Während ihr Umfeld bei der Verkündung ihrer überraschenden Wahl in den Nationalrat am Sonntag in Tränen ausbrach und sie von allen Seiten umarmt wurde, regte sich die 35-Jährige kaum.
Während ihr Vater von den Emotionen übermannt «Ich liebe Basel! Ich liebe Basel» schrie, blieb die BastA!-Politikerin im Moment des grössten Erfolgs ihrer bisherigen Karriere ruhig. So, als habe sie irgendwie geahnt, dass es reichen wird, auch wenn es am Wahlsonntag bis zum Schluss danach aussah, dass die SP mit Mustafa Atici den dritten Sitz ins linke Lager zurückholt.
Kaum jemand ausser Arslan selber hatte mit ihrer Wahl gerechnet, Favoritin auf der Liste des Grünen Bündnis war Kollegin Mirjam Ballmer. Für alle. Arslan ist es gewohnt, unterschätzt zu werden, was nicht bedeutet, dass sie das nicht trifft. Auch wenn die vielen Rückschläge sie stärker gemacht haben, ihre sensible und emotionale Seite hat sie nicht verloren.
Die perfekte Schlagzeile
Es war ein steiniger Weg für Arslan bis zu diesem Wahltriumph. 1991 zog sie als 11-Jährige mit ihrer Mutter und ihren beiden älteren Brüdern von der Osttürkei in die Schweiz, in der ihr Vater schon ein paar Jahre lebte. Arslan besuchte die Fremdsprachenklasse und schaffte es von dort als Einzige ins Gymnasium. 2004 liess sie sich einbürgern, im selben Jahr kandidierte sie erfolgreich für den Grossen Rat.
Das klingt nach raschen Karrieresprüngen, doch Arslan sagt über ihren Werdegang: «Mir wurde nichts geschenkt, ich musste mir alles erkämpfen.»
Seit dem Wahlsonntag wandelt die Juristin nun wie durch einen Traum, reiht Interview an Interview. Als erste Kurdin im Nationalrat liefert sie den Medien aus dem In- und Ausland die perfekte Schlagzeile. Natürlich sei ihre Wahl speziell, sagt Arslan. Aber sie sei es leid, nur auf ihren Migrationshintergrund reduziert zu werden.
«Ich bin nicht in der Türkei politisiert worden, sondern in der Schweiz. Zu meinen Stärken zählt, dass ich einen Migrationshintergrund habe – aus diesen Erfahrungen kann ich schöpfen», sagt sie, «aber ich bin eine Schweizer Politikerin.»
Störend findet Arslan auch, dass es immer wieder heisst, sie sei nur dank den türkisch-kurdischen Stimmen gewählt worden. «Bei einem bürgerlichen Parlamentarier sagt man ja auch nicht, dass er mit Stimmen aus dem Daig die Wahl geschafft habe.»
Arslan, die im Kleinbasel gross geworden ist und heute im Gundeli lebt, war es seit ihrem Einzug in den Grossen Rat 2005 schon immer wichtig gewesen, nicht nur als «die Migrantin» zu gelten. Dabei geht es ihr nicht um Verleugnung: Sie ist stolz auf ihre kurdische Herkunft, sie sucht auch die Nähe zur kurdischen Community. Was sie allerdings nicht will, ist «in eine Schublade» gesteckt zu werden.
Dies hat auch Parteikollegin Heidi Mück beobachtet, als Arslan im Grossen Rat Platz nahm: «Ich habe am Anfang Kritik geäussert, weil sie sich bei Migrationsthemen so zurückhaltend zeigte. Sie meinte daraufhin, dass sie sich nicht auf das reduzieren lassen wolle – was ich verstehen kann.»
Und obwohl sie sich logischerweise im Grossen Rat für Flüchtlinge einsetzt, wie ein Blick auf ihre Vorstösse zeigt, ist es nicht das einzige Thema. Sie setzt sich auch für günstigen Wohnraum ein, Gemeinschaftsgärten in Parkanlagen oder dafür, dass alle Kaderstellen in der Verwaltung öffentlich ausgeschrieben werden.
Wahl noch surreal
Auf welche Themen sie sich in Bern fokussieren will, weiss Arslan noch nicht im Detail. «Es ist schwierig, mich schon jetzt festzulegen.» Momentan konzentriere sie sich auf die Asylpolitik und das neue Nachrichtendienst-Gesetz. Nervös ist sie vor der ersten Sitzung am 30. November im Nationalrat nicht. «Ich werde gut aufgehoben sein.» Die beiden Basler Nationalräte Silvia Schenker und Beat Jans haben Arslan bereits angeboten, sie zu unterstützen.
Aber so richtig angekommen ist sie in ihrem neuen Amt nicht, noch immer empfindet Arslan ihre Wahl als surreal. «Ich werde es wohl erst realisieren, wenn ich im Nationalrat sitze und in das Amt hineinwachse.» Es wartet keine einfache Aufgabe in Bern auf die Fraktionschefin des Grünen Bündnisses in Basel. Eine linke Politik im nach rechts gerutschten Parlament zu vertreten, dürfte eine frustrierende Angelegenheit sein.
Arslan ist sich dessen bewusst: «Ich stehe für eine Politik ein, die es leider sehr schwer in der Schweiz hat. Aber genau weil der Nationalrat rechter geworden ist, braucht es die linke Stimme umso mehr.» Der Kanton Basel-Stadt habe mit ihrer Wahl nach Bern ein Zeichen gegen den nationalen Trend gesetzt.
Dass Kritik kommen wird an ihr und ihrer Politik, ist zu erwarten. Und das kennt die BastA!-Politikerin bereits. Sie wurde und wird von vielen bürgerlichen Kollegen angefeindet, aber nicht nur. Conradin Cramer von der LDP sitzt wie Sibel Arslan seit 2005 im Basler Parlament. Mit ihrer Politik kann er nicht viel anfangen, für Arslan findet er aber nur positive Worte: «Es ist eine ungeheure Leistung, wie weit es Sibel Arslan gebracht hat, zumal sie erst mit elf Jahren in die Schweiz kam.» Beeindruckend sei auch, wie sie sich nach Rückschlägen immer wieder aufraffen konnte.
Warmherzig und leichtsinnig
Warum das so ist, dafür gibt Heidi Mück eine Erklärung zwischen den Zeilen, wenn sie Arslan beschreibt: «Sibel Arslan politisiert mit sehr viel Herz – sie hat ein unglaubliches Gespür für linke Politik.» Sie komme nicht aus der Theorie, sondern aus der Praxis. Zudem sei sie kein Kopfmensch, sondern entscheide oft aus dem Bauch heraus. Eine «warmherzige, ehrgeizige und engagierte» Kollegin sei Arslan.
Es klingt so, als ob Arslan gar nicht anders könne, als vorwärtszugehen und ihre Positionen weiterzuvertreten. Nicht berechnend oder strategisch. Genau das macht Arslan für ihre politischen Gegner auch angreifbar. Sie wird als naiv wahrgenommen, leichtsinnig. Man belächelt sie, nimmt sie nicht immer ernst und kritisiert ihre Art, sich auszudrücken.
Arslan, die im Zuge einer BaZ-Kampagne Ende 2014 eine Kaderstelle beim Baselbieter Sicherheitsdirektor Isaac Reber nicht antreten durfte, will sich davon nicht beeindrucken lassen. «Ich weiss, dass ich meiner Linie treu bleiben muss – das ist das Wichtigste.» Sie ist sich bewusst, dass sie bei ihren Reden «oft das Herz auf der Zunge trägt».
Es sei manchmal schwierig, «Gedanken und Argumente in ein kurzes und einfaches Statement zu packen», sagt Arslan. «Weil ich eine Kämpferin bin, wirken meine Aussagen oft emotional und vielleicht auch etwas unstrukturiert. Aber wenn ich keinen Migrationshintergrund hätte, würde dies wohl niemandem auffallen.»
Sibel Arslan gehörte nie zu jener Sorte Politikerinnen, die sich anpassen, nur um zu gefallen oder vorwärtszukommen. Ihre Authentizität ist ihr heilig – das macht sie unverwechselbar.