Hoch lebe die Langeweile!

Alle beklagen sich über das Sommerloch. Damit muss Schluss sein. Ein Plädoyer für mehr Garnichts. 

Oh, die macht nichts, die ist so öde. – Wer über Leute schnödet, die sich mit Genuss langweilen können, entlarvt sich selbst.

Wann hat das eigentlich angefangen? Dieser Wahnsinnsstress, zur Sommerferienzeit sämtliche Festivals abzuklappern. Diese Zwangsneurose, dauernd Freunde treffen zu müssen. Diese Unglücksspirale der Rastlosigkeit, auch Freizeit genannt.

Dieser Text ist ein Plädoyer für eine geknechtete Sache: die Langeweile.

Auf dem Pausenhof der Freizeitgestaltung wird die Langeweile schon viel zu lange herumgeschubst von Strebern wie dem «Spass», der «persönlichen Weiterbildung», dem «Abenteuer» oder dem eingebürgerten «Entertainment».

Damit ist jetzt Schluss. Hoch lebe die Langeweile!

Wann hat sie eigentlich angefangen, diese Abwertung der totalen Ereignislosigkeit? Ereignislosigkeit und Sommerferien, das waren mal Synonyme, soweit ich mich erinnere. Der Sommer war ein zähflüssiges Amalgam aus erhitztem Asphalt und Kaugummi. Mit der Sandkastenschaufel Burgen bauen. Im Garten des Nachbarn Tulpen sprengen. Wasserballone auf vorbeifahrende Autos werfen. Wie war das schön.

Die Erfindung des Sommerlochs

Dann kamen die Medien und erfanden das Sommerloch. Seither spricht alle Welt davon, als hätte es diesen Begriff schon immer gegeben und als wäre allen gleichermassen daran gelegen, dieses Loch zu stopfen. Koste es was es wolle.

Also stampfen sie Festivals aus dem Boden, bis die Ohren schlackern. Also bauen sie Openair-Kinos auf, bis die Pupillen glühen. Eine Fluggesellschaft warb unlängst mit dem Slogan «been there, done that», was so viel heisst wie «habs gesehen, war schon da». Selten wurden Ferien zum Abhaken schamloser beworben.

Langeweile, sagen Sie jetzt vielleicht, sei für Langweiler. Doch die Tautologie der Gehetzten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier etwas gewaltig schiefläuft. Sie sagen Langeweile und meinen Zeitverschwendung. Sie meinen Verschwendung und denken an Ressourcen. Sie denken an Ressourcen und entlarven sich damit als Spekulanten an der Freizeitbörse. Ihr Einsatz: das werktags verdiente Geld. Ihr Ziel: Fun, Fun, Fun bis das Zwerchfell brennt.

«Langeweile individualisiert radikal, wer sich langweilt, wird unberechenbar.»

Norbert Bolz, Medientheoretiker

Die Kognitionspsychologie hat den zwanghaften Erlebnisdrang wiederholt als Unsinn entlarvt, denn Alltagsstress lässt sich durch Freizeitstress nicht kompensieren. Für Aufsehen sorgte 2013 eine Studie der britischen Forscherinnen Sandi Mann und Rebekah Cadman, die Versuchspersonen Nummern aus einem Telefonbuch abschreiben liessen, Langeweile pur.

Einer zweiten Gruppe wurden interessante Aufgaben zuteil. Danach sollten sich beide Versuchsgruppen beliebige Verwendungszwecke für zwei Plastikbecher einfallen lassen und siehe da: Die Telefonnummernabschreiber übertrafen die anderen Probanden in Sachen Kreativität um Längen.

Noch ein paar  Sätze mit abgedroschenen Floskeln

In der harmlosen Lesart heisst das: Nichtstun fördert die Kreativität. Eine politisch brisantere Lesart offeriert der Medientheoretiker Norbert Bolz in seinem Essay «Lob der Langeweile». Kreativität, sagt Bolz, hat ein Geschwister: die Unberechenbarkeit. «Langeweile individualisiert radikal, wer sich langweilt, wird unberechenbar. Und das erklärt auch, warum immer wieder öffentlich Vorsorge getroffen wird, damit die Langeweile nicht zum kollektiven Ausbruch kommt.»

Das Entertainment in freien Stunden dient demnach vor allem der kollektiven Anästhesie. Was klingt wie eine Verschwörungstheorie, wird auf den zweiten Blick doch ganz plausibel und hat nicht zuletzt eine Reihe entsprechender Begriffe hervorgebracht: Unterhaltungsindustrie. Freizeitgestaltung. Der Ökonom und Nobelpreisträger Friedrich von Hayek hat auf den Selbstwiderspruch dieses Unworts «Freizeitgestaltung»  hingewiesen. Organisierter Müssiggang, wer kann das wollen?

Plötzlich wird also Langeweile zu einem Akt radikaler Autonomie. Der Rumhänger, ein Rebell des 21. Jahrhunderts. Aber was für ein angenehmer Zeitgenosse er doch ist. Er leidet nicht unter der «Fear-of-missing-out», keine «Fomo», kein Druck. Er beteiligt sich nicht am Abenteuerwettbewerb in den sozialen Netzwerken, kein #vacay, kein Neid. Er steht montags im Büro und erzählt: nichts.

Denn er lag am Wochenende irgendwo auf Balkonien und liess die Seele baumeln. Auch das ist ein Langweiler: Er schreibt öde Sätze mit abgedroschenen Floskeln.

11. April 1954: Der ereignisloseste Tag des 20. Jahrhunderts

Sie werden kommen und über ihn tuscheln: Der da, der ist ein Langweiler. Er ödet mich an, werden sie sagen und sich die Handfläche auf den offenen Mund legen, als müssten sie gähnen. Die international anerkannte Geste für Langeweile wird sie zusammenschweissen, als wärs im Hamsterrad nicht bereits eng genug. Sie werden sich damit selber entlarven.

Die Langeweile gehört rehabilitiert! Ein englischer Informatiker hat dank eines ausgeklügelten Computerprogramms den ereignislosesten Tag des 20. Jahrhunderts errechnet, es ist der 11. April 1954. Damals passierte … nichts.

Wir brauchen mehr davon. Es braucht einen internationalen Tag der Langeweile, unseretwegen der 11. April. Er sollte nicht begangen werden, es sollte nichts los sein. Der Verkehr läge still, am nächsten Tag erschienen keine Zeitungen und im Fernsehen liefe auf allen Sendern das Testbild.

Wir plädieren für Umsetzung unserer Idee bis im April 2019. Wir haben lange genug gewartet, aber sind überzeugt: Was lange weilt, wird endlich gut.

Nächster Artikel