Die Schweiz ist 170 – Begegnung mit der «Stunde null»

Warum ist eigentlich nicht der 12. September der Nationalfeiertag? Gedanken zum Gedenken ans Gründungsjahr der modernen Schweiz.

Gebaut auf dem Fundament von 1848: Das Bundeshaus auf einer kolorierten Postkarte, deren Stempel von 1913 datiert.

Der 12. September steht wieder einmal bevor. Was es mit diesem Datum auf sich hat, muss manchen erklärt werden. Bei einem Hinweis auf den 1. August wäre dies nicht nötig. Am 12. September wurde vor 170 Jahren, also 1848, die Bundesverfassung in Kraft gesetzt, die noch heute das Fundament der modernen Schweiz bildet.

Bereits seit einigen Jahren wird die Frage aufgeworfen, ob dies nicht der angemessenere Nationalfeiertag wäre als der bisher zelebrierte 1. August. Dann und wann finden am 12. September Alternativanlässe statt. Dies keineswegs in der unrealistischen Hoffnung, den 1. August verdrängen zu können, sondern einzig in der Absicht, komplementär neben «1291» eben auch «1848» eine würdigende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen.

Neonationaler Stolz auf 1848

Jetzt erscheint ein solches Gedenken wegen der halbrunden 170 Jahre besonders erforderlich zu sein. Vor zehn Jahren wurde die Inkraftsetzung der Bundesverfassung weit weniger zu einer dezimalen Aktualität gemacht. Anders und einleuchtend vor 20 Jahren. Der Tradition entsprechend, hatte man 1998 ein grosses 150-Jahre-Jubiläum begangen. Warum erlebt «1848» jetzt wieder grössere Aufmerksamkeit?

Es kommen zwei Tendenzen zusammen: Einerseits sind fortschrittliche Kräfte weiterhin bestrebt, eine Würdigung der modernen Schweiz dem Kult um die archaischen Anfänge im 13. Jahrhundert vorzuziehen. Europaorientierte Schweizer haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder auf «1848» berufen, während sich das Gegenlager auf den sogenannten Bundesbrief von 1291 und die Ablehnung «fremder Richter» beruft.

Neuerdings neigen nun auch konservative Kräfte dazu, mit neonationalem Stolz das Verfassungswerk von 1848 als für Europa vorbildliches Meisterwerk und sogar als «Geniestreich» zu würdigen. Dabei wird das Statische, Bestandhabende, Überdauernde gewürdigt und nicht das Dynamische hervorgehoben, nicht die Entwicklungsmöglichkeiten und nicht die gelungenen Innovationen.

Verfassungsentwurf eines Italieners

Der 12. September 1848 war und ist gewiss ein wichtiger Tag – aber nur bedingt eine «Stunde null». Das Wort von der «Neuerfindung der Schweiz» ist eine auf Sensation erpichte Fehlbezeichnung des Vorgangs. Eigentlich gibt es Nullstunden in der Geschichte ohnehin nicht, auch nicht in der vergangenheitslastigen Schweiz. Im konkreten Fall ist ab 1830 auf der unteren Ebene, in den liberalen Kantonen, derart viel Vorarbeit geleistet worden, dass eine Beschränkung auf «1848» viel zu kurz greift.

Wie viel bereits vorgespurt worden war, zeigt etwa der bekannte Zuruf des Luzerner Liberalen Kasimir Pfyffer vom Jahr 1831, in dem er die lieben Miteidgenossen daran erinnerte, «dass die jetzige schwache Vereinigung der Kantone keine gemeinsame Schöpfung, keine National-Unternehmung möglich macht, dass die Industrie in den engsten Spielraum eingeschlossen, der Handel überall gehemmt, und in den geistigen Kräften der grösste und edelste Reiz, das Bewusstsein für eine Nation zu arbeiten, fehlt».

1832 legte der italienische Jurist und Genfer Neubürger Pellegrino Rossi einen kompletten Verfassungsentwurf vor. Wer heute ein nationales Schulterklopfen auf das Zustandekommen einer Bundesverfassung betreibt, müsste gleichzeitig den hohen Anteil würdigen, den Migranten aus den Nachbarländern daran hatten.

Die Radikalen unter den Gründungsvätern wie der Berner Ulrich Ochsenbein verstanden die Schweiz nicht als einsamen Sonderfall, sie verschickten Solidaritätsadressen an liberale Brüder im Ausland und verstanden sich als Teil eines grossen Völkerfrühlings.

Die Entstehung der modernen Schweiz nimmt in der gängigen nationalen Meistererzählung einen erstaunlich bescheidenen Platz ein. Auch die historische Forschung hat bisher wenig Interesse an dieser doch wichtigen Phase der Landesgeschichte gezeigt. Der Publizist Rolf Holenstein hat im Hinblick auf den gegebenen Gedenktermin eine breit angelegte Studie veröffentlicht. Den Entscheid zugunsten des für die Schweiz neuen, als amerikanisches Modell aber bereits bekannten Zweikammersystems, hat er mit neuen Quellen minutiös und in verdienstvoller Weise rekonstruiert.

Eine Losung lautete: Nicht 22 einzelne Werkstätten, sondern eine einzige gemeinsame Werkstatt.

Die Erarbeitung einer Verfassung erfolgte nicht in einem Verfassungsrat, sondern hinter verschlossener Tür in einer kleinen Kommission. Im Protokoll sah man, um personalisierte Dispute zu vermeiden, von Namensnennungen ab. Man fand sich in einer Kompromisslösung zwischen zwei Extrempositionen, die auf der einen Seite – wie gehabt – bloss eine Kantonskammer und auf der anderen Seite bloss eine Nationalkammer wollten. Die erste, stärker favorisierte Lösung hätte den konservativen Kleinkantonen zu viel Gewicht gegeben, die zweite, schwächer vertretene einen Einheitsstaat gebracht. Ein ins Gewicht fallendes Argument gegen eine zweite Kammer lautete, dass diese den Staat zu teuer käme.

Wie die Legislative gebaut werden sollte, war nur eine von vielen Fragen, vielleicht aber die umstrittenste. Andere wichtige Neuerungen waren: die Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsraums, das heisst die Abschaffung der vielen Binnenzölle und die Errichtung eines gemeinsamen Aussenzolls; das Bundesmonopol in den Aussenbeziehungen (also die Verunmöglichung von kantonalen Sonderbünden mit dem Ausland); die Bundesaufsicht über alle Kantonsverfassungen und die Revidierbarkeit der Verfassung, sofern das Parlament oder 50’000 Bürger dies forderten.

Die Erschaffung des «Schweizervolks»

Welche Beweggründe führten zur neuen Ordnung von 1848? Der Bundesvertrag von 1815 erschien überholt. Wenn die Eidgenossenschaft in der Staatenwelt eine sich behauptende Grösse bleiben wollte, musste sie sich eine bundesstaatliche Struktur geben. Die wirtschaftlichen Kräfte der modernen Schweiz drängten auf die Schaffung eines einheitlichen Marktes mit einer gemeinsamen Währung, gleichen Massen und einem gesamtschweizerischen Postwesen sowie mit Personenfreizügigkeit (bzw. Niederlassungsfreiheit). Eine Losung lautete: Nicht 22 einzelne Werkstätten, sondern eine einzige gemeinsame Werkstatt.

Zuerst machte die Elite einen Staat, dann entstand ein kräftiges Volksbewusstsein.

Ein wichtiger Verfassungsartikel schuf die Möglichkeit, «eidgenössische Werke» an die Hand zu nehmen. Das konnten Gewässerkorrekturen sein, um den chronischen Überschwemmungen entgegenzuwirken. Er erlaubte, was für den modernen Staat ausserordentlich wichtig war, auch den Betrieb eines gesamtschweizerischen Telegrafennetzes.

Die Bundesstaatsgründung lässt sich aber nicht auf die materiellen Bedürfnisse reduzieren. Es gab auch die von Kasimir Pfyffer, wie gesagt, schon 1830/31 zum Ausdruck gebrachte, politische Motivation, ein «Schweizervolk» zu schaffen. Die ersten Passagen der neuen Verfassung sprachen denn auch von der Absicht, aus den Völkerschaften der 22 souveränen Kantone eine schweizerische Nation zu machen.

Das verlief wie meistens in solchen Fällen: Zuerst machte die Elite einen Staat, dann entstand ein kräftiges Volksbewusstsein. Die Begeisterung der Bürger hielt sich in engen Grenzen. Das neue Werk wurde von 6½ Kantonen abgelehnt und zwei Kantonszustimmungen kamen nur mit Manipulationen zustande. Nach heutigen EU-Regeln hätte die Vorlage als abgelehnt eingestuft werden müssen.

Eine wichtige Durchlaufstation

In der Bundesverfassung von 1848 wurden die Grundstrukturen gelegt und die Zuständigkeiten geregelt. Wichtiges wurde aber nur nach und nach realisiert. Bern wurde erst im November 1848 zur Bundesstadt bestimmt, das Einheitsgeld wurde erst 1850 nach dreitägiger «Münzschlacht» eingeführt. Eine gemeinsame Ausbildungsstätte (die ETH) entstand nach längerem Hin und Her erst 1855, die Bundesarmee erst 1874, die Bundesbahn erst mit der Abstimmung von 1898. Zivil- und Strafrecht wurden erst im 20. Jahrhundert vereinheitlicht, u.s.w.

Mit anderen Worten: Der 12. September 1848 hatte eine lange Vorgeschichte und eine lange Nachgeschichte, er war aber eine wichtige Durchlaufstation im Prozess des Aufbaus des Nationalstaats – des «nation building» –,  wie er auch in anderen Ländern betrieben wurde.

Warum ist, wenn dies doch ein derart wichtiger Moment war, der 12. September nicht zum Nationalfeiertag erhoben worden? Dazu lassen sich drei Überlegungen anbringen:

  1.  In seiner eigenen Zeit konnte dieser Tag nicht schon ein historischer Bezugspunkt sein; der 1. August 1291 wurde erst 1899 in der sehr bürgerlich gewordenen Zeit zum Nationalfeiertag gemacht.
  2. Selbst die Modernisierer von 1848 wünschten sich als Gegenstück zu ihrer Zukunftsorientierung eine möglichst tiefe Vergangenheit (die Helvetier, dann Wilhelm Tell und Winkelried).
  3. Die liberalen Sieger des Bürgerkriegs von 1847 lieferten den besiegten Konservativen mit der Kultivierung alteidgenössischer Bezüge ein Integrationszückerchen.

Rolf Holenstein, Stunde Null. «Die Neuerfindung der Schweiz 1848. Die Privatprotokolle und Geheimberichte». Echtzeit Verlag, 2018, 1080 Seiten.

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