Buchpreisträger Peter Stamm: «Das Dirty-Old-Man-Syndrom geht mir ab»

Er ist einer der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller überhaupt, jetzt hat er den Schweizer Buchpreis gewonnen. Für die letzte TagesWoche spricht Peter Stamm über die Notwendigkeit des Scheiterns, politisches Engagement und die literarische Krux mit #metoo.

Beim dritten Anlauf hat es geklappt: Peter Stamm ist Träger des 11. Schweizer Buchpreises.

Nach Bekanntgabe des Preisträgers betrat Peter Stamm höflich die Bühne im Foyer des Theaters Basel. Der Gewinner des Schweizer Buchpreises bekam Blumen, stand demütig, geehrt und gerührt da, und sagte in der Stunde des Triumphs ein paar Worte der Solidarität mit den Verlierern dieses Literaturwettbewerbs. Man möge deren Bücher bitte ebenfalls kaufen. Kein Buch habe die Auszeichnung «bester Roman» verdient, man sei schliesslich nicht beim Tennis. Trotzdem ist Stamm so etwas wie der Roger Federer der Literaturszene.

Peter Stamm: Wie wird man als Schriftsteller berühmt?

Autorinnen und Autoren sollten sich vor allem aufs Schreiben konzentrieren. Ich habe in meiner ganzen Schriftstellerkarriere nie aktiv etwas unternommen, um Erfolg zu haben. Ich habe viele Lesungen gehalten, das hilft sicher. Jens Sparschuh, ein deutscher Autor, hat früher mal zu mir gesagt, man müsse die Sekundärtugenden pflegen. Pünktlich sein, höflich sein. Das darf man nicht unterschätzen. Bücher kommen und gehen, die Veranstalter aber bleiben, und wenn die einen gut leiden können, ist das von grossem Wert. Ich habe über 1500 Lesungen gemacht in den vergangenen 20 Jahren, ich weiss, wovon ich spreche.

Sie sind zurzeit einer der wenigen Schweizer Schriftsteller von internationaler Strahlkraft. Wie fällt Ihre Bestandesaufnahme der jungen Schweizer Literatur aus?

Ich finde, die junge Schweizer Literatur ist erstaunlich lebendig. Das spiegelt sich auch in der Auswahl zum Buchpreis wider. Heinz Helle ist neben Vincenzo Todisco, der zu meiner Generation gehört, der Älteste. Aber Helle ist in meinen Augen auch noch jung mit seinen 40 Jahren. Es gibt also diese Biel-Fraktion, die für Aufsehen sorgt, es gibt die Spoken-Word-Bewegung. Gerade in Sachen Auftrittsformate wird viel experimentiert, da ist viel los. Und das Niveau ist gut, das ist mein Eindruck. Gleichzeitig ist international erfolgreich zu sein schwerer geworden. Übersetzt zu werden ist verdammt schwer.

Warum ist das schwerer als früher? 

Primär ist das so, weil die Bücherverkäufe überall zurückgehen. Es gibt weniger Verlage, die das Risiko eingehen, Autoren zu übersetzen.

Eine der Hauptfiguren in Ihrem Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», ein alternder Schriftsteller, sagt: «Die jahrelangen Bemühungen und das ewige Scheitern waren es schliesslich, die mir zu Erfolg verhalfen.» Was ist das für eine Obsession der Literaten mit dem Scheitern?

Oscar Wilde sagte einmal, die Tragödie seines Lebens sei gewesen, dass er sein Genie für das Leben verwendet habe, aber fürs Schreiben nur sein Talent. Ich glaube, darin liegt eine reale Gefahr. Dass man so schreibt, wie es das Talent gerade hergibt. Man kommt dann in so eine Schreibe, wie man sagt. Damit ein wirklich guter Text entsteht, braucht es aber Brüche. Als ich noch als Reporter unterwegs war, gab es immer wieder diesen Punkt, an dem etwas schiefging. Einmal reisten ein Fotograf und ich zu einem Dorf in Norwegen, um über die Fischerei zu berichten. Als wir ankamen, stellte sich heraus, dass alle Fischereifabriken dichtgemacht hatten. Unser Untersuchungsgegenstand war dahin. Bis zu diesem Zeitpunkt wäre das eine durchschnittliche Reportage geworden. Schlussendlich wurde es ein richtig guter Text.

Ist jedes Scheitern fruchtbar?

Nein, leider nicht. Manchmal scheitert man, und dann wird auch noch der Text richtig schlecht.

Ihre Sprache ist aussergewöhnlich «normal». Die Kritik benutzt auch Attribute wie «unaufgeregt», «sachlich» oder «einfach». Was ist schwieriger: schillernd wie Jonas Lüscher zu schreiben oder unaufgeregt wie Peter Stamm?

Ein komplexer Satz ist vielleicht ganz grundsätzlich schwerer zu schreiben als «Ich ging nach Hause.» Andererseits kommt es bei einem einfachen Satz auf jedes Wort und jedes Satzzeichen an. Ich vergleiche das gerne mit Bildern von Mark Rothko. Wenn auf einer der streng komponierten Farbflächen eine Fliege sitzt, dann ist das nicht mehr schön. Aber wenn sie daneben ein Bild von Pieter Bruegel betrachten, dann ist die Fliege kein Problem. Auf diesen Bildern ist so viel los, da hat auch mal eine Fliege Platz. In einem ganz schlichten Text kann jede Kleinigkeit alles kaputtmachen. Man sucht sich seinen Stil ja nicht aus. Ich kann zum Beispiel nicht wie Jonas Lüscher schreiben. Er hat seinen Stil, ich habe meinen. Man kann Stil auch nicht imitieren, auch wenn man das als Jungautor gerne tut. Man versucht dann in der Regel zu schreiben wie Thomas Bernhard, so war das zumindest früher. Alle wollten schreiben wie er.

Ich habe manchmal den Eindruck, dass sich der Hauptkritikpunkt einer Besprechung aus der Sympathie des Kritikers mit der Hauptfigur im Buch ableitet.

In Besprechungen, die auf der Schlichtheit Ihres Stils beharren, liegt nicht selten eine Mischung aus Bewunderung und Spott. Etwas zwischen «wie macht er das» und «das kann doch jeder». 

Ich habe mir dazu auch schon Gedanken gemacht und gedacht, die aktuelle Situation in der Literatur ist ein wenig vergleichbar mit jener der Kunstszene, bevor die Impressionisten kamen. Man hat also manchmal das Gefühl, die Kritik beurteile nur die technische Schwierigkeit eines Werks. Zum Impressionisten sagt sie: Du kannst nicht malen. Eine Kritikerin schrieb mal über mich, sie wünschte sich mehr Nebensätze. Da dachte ich: Schön für sie, aber das ist hier kein Wunschkonzert. In der bildenden Kunst ist Schlichtheit mittlerweile akzeptiert, in der Literatur wird sie weiter unterschätzt.

Der Literaturkritiker, der Banause?

Peter Stamm, geboren 1963 im Kanton Thurgau, hat schon als Buchhalter und Nachtwächter gearbeitet und trotzdem nicht angefangen, wie Kafka zu schreiben, sondern wie Stamm. Das ging lange nicht gut, seine ersten literarischen Versuche erhielten allesamt Absagen, bis ihm  im Alter von 35 Jahren mit dem Roman «Agnes» der Durchbruch gelang. Seither sammelt Stamm Preise wie reife Früchte. Er lebte zeitweise in New York, Paris und Skandinavien, sein Werk wird in über 30 Sprachen übersetzt. Heute lebt Stamm in Winterthur. 

Ich meine das nicht generell, aber ich staune schon immer wieder über die Kriterien der Kritik. Ich habe zum Beispiel nicht selten den Eindruck, dass sich der Hauptkritikpunkt einer Besprechung aus der Sympathie des Kritikers für die Hauptfigur im Buch ableitet. Ist die Hauptfigur unsympathisch, kriegt das Buch eine schlechte Kritik. Das passiert in den besten Feuilletons. Es gibt eine Tendenz zu inhaltlich orientierter Kritik, zumindest in den deutschsprachigen Ländern. Die gescheitesten Kritiken kriege ich immer im Ausland, die USA sind hier ein absolutes Vorbild.

Wird heute zu wenig über Stil geredet?

Ich weiss nicht, ob sich diese Diskussion lohnen würde, man kann ja ohnehin gar nicht stillos sein. Stil hat sehr viel mit Persönlichkeit zu tun und genauso, wie jeder eine Persönlichkeit hat, hat auch jeder einen Stil. Vielleicht müsste vermehrt über die Qualität der Sprache gesprochen werden. In der Malerei übrigens interessiert es niemanden mehr, ob die Malerin einen perfekten Schatten malen kann. Da sind andere Kriterien wichtiger geworden.

Auf Ihrem Facebook-Account kann man nachlesen, dass Sie am 13. Oktober zum ersten Mal in Ihrem Leben an einer Demonstration teilgenommen haben. Es war der von Jonas Lüscher mitinitiierte, länderübergreifende Marsch gegen Nationalismus, für ein vereintes Europa. Wie wars?

Es war ganz nett. Ich bin ja seit Ewigkeiten bei den Grünen, seit 35 Jahren, glaube ich, aber Demonstrationen waren mir immer ein bisschen fremd. Massenveranstaltungen sind nicht mein Ding, obwohl ich es gut finde, dass demonstriert wird. Die Demonstration war während der Frankfurter Buchmesse und mein Lektor meinte, er wolle hin, seine Freunde auch. Da bin ich eben mitgegangen.

https://tageswoche.ch/gesellschaft/geht-auf-die-strasse-schweizer-buchpreistraeger-mobilisiert-gegen-rechts/

Was hat Sie inhaltlich dazu bewogen, ausgerechnet auf dieser Demonstration mitzulaufen? Mit 55 Jahren an der ersten Demonstration, da muss es doch einen bestimmten Grund gegeben haben?

Es war eben wirklich ein Mitlaufen. Wäre mein Lektor nicht hingegangen, hätte ich vielleicht gekniffen. Mitgeholfen hat aber schon auch, dass Jonas Lüscher das organisiert und mich angefragt hat, ob ich das mitunterstützen würde. Da fühlte ich mich auch ein bisschen verpflichtet.

Vielleicht wird auch meine politische Ader wieder sichtbarer. Ich weiss es noch nicht.

Sie haben dann auch einige Posts abgesetzt zu den Ereignissen in Chemnitz. Was macht Sie wütend?

Ich hatte eigentlich nur ein Foto geteilt und geschrieben, dass einige angeblich spontan Demonstrierende plötzlich professionell gefertigte Transparente dabeihatten. Gefertigt von einer Agentur, die auch für die SVP arbeitet und die mit derselben Ästhetik der schwarzen und weissen Schafe in Chemnitz auftauchte. Auf den Post kamen dann sofort Antworten in Form von Rechtfertigungen und Selbstverteidigungen für Dinge, die ich ihnen gar nicht vorgeworfen habe. Ich denke, dass da Netzwerke walten, die organisierter sind, als man denkt. Sicher gab es in Chemnitz auch naive oder spontane Teilnehmende. Aber es waren eben auch Bündnisse da. Und wenn man davon ausgeht, dass diese zum Teil sehr extreme Haltungen vertreten, halte ich das für gefährlich. Wie man an der Ästhetik einiger Transparente ablesen konnte, sind da auch Schweizer Kreise involviert.

Insbesondere der Romanautor Peter Stamm ist nicht als politischer Schriftsteller bekannt. Ändert sich das gerade angesichts aktueller politischer Debatten und des Aufkommens rechtsradikaler Kräfte in Europa?

Dass ich nicht politisch sei, stimmt so nicht. Ich habe sehr viele politische Texte geschrieben, für einen Beitrag im «Nebelspalter» wurde ich wegen Ehrverletzung der Schweizer Armee vor dem Presserat verklagt. Irgendwann stellte sich für mich aber die Frage, was das alles bringt. Ich glaube schon, dass ich auch mit meinen Romanen etwas bewege, nur vielleicht weniger direkt (überlegt kurz). Vielleicht müsste man schon mehr machen. Was Jonas Lüscher mit dieser Demonstration gemacht hat, finde ich gut und wichtig. Vielleicht wird auch meine politische Ader wieder sichtbarer. Ich weiss es noch nicht.

Anderes Thema, auch politisch: In «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» trifft ein älterer Schriftsteller auf eine jüngere Frau. Eine vertrackte Geschichte, natürlich geht es auch ein bisschen um Liebe. Hat es das literarische Motiv «älterer Herr trifft junge Frau» heute schwerer als auch schon?

Die Verflechtung gesellschaftlicher Debatten mit dem Anspruch an moralisch vertretbare Kunst findet Peter Stamm hochproblematisch. 

In meinem Roman trifft ein Schriftsteller auf seine Freundin, die ungefähr gleich alt ist wie er. Erst im Verlauf der verschachtelten Handlung wird die Freundin in einer jüngeren Frau gespiegelt und eine neue Begegnung findet statt. Von daher finde ich die Beziehungskonstellation in diesem Buch auch nicht problematisch, die beiden siezen sich ja auch bis zum Schluss. Das ist keine Altherrenerotik, das ist mir zuwider und wäre nicht mein Stil. Das «Dirty-Old-Man-Syndrom» geht mir ab, aber ich finde, man merkt das einem Text auch an, oder? Man merkt, ob es schlüpfrig wird, wenn Frauenfiguren beschrieben werden und der Erzähler zum Beispiel über einen schönen Po sinniert. Das kommt bei mir alles nicht vor.

Dürfen zu Schlagworten verdichtete Kontroversen wie #metoo zu Diskussionsgrundlagen für Kunstwerke werden?

Ich finde das hochproblematisch. Ich denke, dann müsste man auch das Beschreiben eines Mordes verbieten, denn ein Mord ist auch nichts Gutes. In der Literatur passieren Dinge, die nicht gut sind. Aber das ist ja der Witz der Literatur. Andererseits: Nur weil ich in der Literatur Dinge tun kann, die ich in der Realität niemals tun darf, heisst das noch nicht, dass irgendetwas willkürlich passieren sollte. Ich bringe niemanden um in meinen Büchern, wenn ich keine guten Gründe dafür habe. Aber diese Verflechtung gesellschaftlicher Debatten mit dem Anspruch an moralisch vertretbare Kunst finde ich wirklich hochproblematisch. Man hat mir schon vorgeworfen, ich sei Antifeminist, weil ich in einem Buch eine Hausfrau beschreibe, die nicht arbeiten will. Ich schreibe keine Geschichten, damit sie den Leuten als Vorbild dienen.

Leben wir in einer zunehmend kunstfeindlichen Zeit?

Ich denke mit radikalen Vorwürfen an literarische Situationen diskreditiert man die wichtigen Anliegen in der Realität. Es gibt wirklich schlimme Fälle, die unter #metoo bekannt wurden. Diese Fälle werden verharmlost, wenn Fiktion mit Realität gleichsetzt wird.

Gibt es trotzdem Momente, in denen Sie unter dem Eindruck aktueller Debatten beim Schreiben eine innere Schere wahrnehmen?

Nein. Für mich muss eine Szene einfach stimmen. Ich glaube, wie gesagt, dass man das auch als Leserin oder als Leser merkt. Wenn sich in einem meiner Texte eine junge, vielleicht hübsche Frau auszieht, dann nicht, weil ich das geil finde, sondern weil das im Kontext der Geschichte so sein muss. Ich glaube, dass nicht ein Hashtag die Messlatte dafür sein sollte, ob das geht oder nicht. Sondern die Frage, ob die Szene für die Geschichte stimmt.

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