Im Wahlkampf wurde nicht über Europa geredet. Dabei würde es höchste Zeit – der Druck aus Brüssel steigt.
Es war das grosse Tabu während des Wahlkampfs. Und wie oft in der Schweiz funktionierte der Umgang mit einem Tabu nach dem altbekannten Muster. Die SVP trötet, der Rest schaut etwas pikiert zur Seite. Parteipräsident Toni Brunner hatte in der «Elefantenrunde» des Schweizer Fernsehens noch keinen halben Satz zur Niederlage seiner SVP verschwendet, da schwenkte er bereits wieder auf sein Lieblingsthema: das verknorzte Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU und die Geheimpläne von Verwaltung und Bundesrat, die Souveränität der Eidgenossenschaft in Brüssel abzugeben. Brunner und seine Mitstreiter wurden während des Wahlkampfs nicht müde, die Europa-Klausur des Bundesrates von vergangenem Mittwoch als Ausgangspunkt der grossen Verschwörung anzuprangen. Der Mittwoch ging vorbei, und der Bundesrat hat – wie erwartet – keine Entscheide gefällt. Man habe sich über aktuelle Entwicklungen informieren lassen, hiess es nach der Sitzung. Und man werde, das hat Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey schon zu einem früheren Zeitpunkt gesagt, die eigene Souveränität sicher nicht in Brüssel abgeben.
Man mag von der Diskussion – und vom Gebaren der SVP – halten, was man mag, verschwinden wird das Thema auch durch Schweigen nicht. Das Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz ist blockiert; der bilaterale Weg scheint am Ende und die EU drängt auf die automatische Übernahme ihrer Rechtsnormen.
Dass diese Themen nun wieder vermehrt diskutiert werden müssen, war auch den Politikern links der SVP bewusst. Aber sie sagten es nicht – zu deutlich ist die Stimmung in der Bevölkerung gegen eine Annäherung an Europa. Darum ist es heute auch schwierig, die Haltung des neuen Parlaments in Europa-Fragen zu bestimmen. «Viele Kandidaten haben ihre Position aus wahltaktischen Gründen zurückgehalten. Das ist nun nicht mehr nötig», sagt Christa Markwalder, Berner FDP-Nationalrätin und Präsidentin der «Neuen Europäischen Bewegung». Sie hofft nun auf neuen Schwung in der Debatte.
Die Zukunft der Schweiz
Etwa von Cédric Wermuth. Der neu gewählte SP-Nationalrat aus dem Aargau will so schnell wie möglich Beitrittsverhandlungen mit der EU und hat das auch nie verhehlt: «Die Krise in Europa zeigt, dass kein Weg an der internationalen Kooperation vorbeiführt.» Europa habe nur eine Zukunft, wenn die Ungleichheiten zwischen Nord und Süd ausgeglichen würden. Das müsse die SP deutlich machen: «Wenn wir uns von der SVP unter Druck setzen lassen, geben wir ihr indirekt recht.» Ein Grundproblem der Debatte sei deren Distanz zum Alltag, sagt Wermuth: «Wir reden von Unabhängigkeit. In der Realität hat die Schweiz aber nur in der EU eine Zukunft.»
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 26/10/11