Die Geschichte der Schweizer Sozialdetektive ist eine besondere. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Versicherungsschnüffler stoppte, weil die Schweiz keine Gesetzesgrundlage dafür hatte, zimmerte das Parlament in Rekordzeit eine entsprechende Ermächtigung.
Die privaten Detektive haben künftig Kompetenzen, auf die sogar die Terrorismusabwehr neidisch blickt: Sie dürfen ohne erhärteten Verdacht Privaträume ausspähen und Balkone observieren. Mit richterlichem Beschluss ist selbst der Einsatz von GPS-Trackern und Drohnen möglich.
Auch die Geschichte des Widerstands gegen diesen Coup der Versicherungslobby ist aussergewöhnlich. Vier Privatpersonen haben sich zusammengetan, um die privaten Ermittler zu stoppen. Ohne Parteien, ohne Organisationen im Rücken. Auf der Plattform We Collect des Basler Kampagnen-Fachmanns Daniel Graf sammeln der Berner Student Dimitri Rougy, Autorin Sibylle Berg und der Rechtsanwalt Philip Stolkin 5000 Unterschriften gegen das neue Gesetz.
Wer sich einträgt, erhält eine E-Mail mit zwei Fragen: Wie viele reale Unterschriften kann er oder sie sammeln, wie viel Geld spenden. Die Rechnung dahinter: Trägt jeder der 5000 nur zehn Unterschriften zusammen, dann reicht das für das Referendum, das 50’000 gültige Unterschriften benötigt.
Aufregendstes Projekt seit Operation Libero
Bis am 5. Juli muss das Referendum eingereicht sein. Rougy erklärt, sobald die 5000 digitalen Unterschriften beisammen seien, werde man diesen Schritt unternehmen. Und es sieht vielversprechend aus: Schon nach wenigen Stunden hatten die Initianten 1500 Unterschriften zusammen.
Dimitri Rougy zeigt sich auf Anfrage begeistert ob des Feedbacks: «Es läuft wie von selbst.» Mit 5000 Helfern, so sein Kalkül, werde man eine grössere Truppe auf die Strasse schicken können, als etwa die Juso Schweiz Mitglieder haben.
Gelingt das Vorhaben, würde das Referendum das aufregendste politische Projekt seit der Gründung der Operation Libero. Können drei Einzelfiguren die millionenschwere Versicherungslobby bezwingen? Politologe Claude Longchamp fragt auf Twitter erstaunt: «Wird eine Bewegung aus der Social-Media-Szene nun referendumsfähig?»
Wird eine Bewegung aus der SoMe-Szene nun referendumsfaehig? Gemeinhin gilt eine Partei, ein Verband, eine Bewegung in der Schweiz als relevant, wenn er/sie erfolgreich ein Referendum zustande bringt. https://t.co/aIRi1gjJhO
— Claude Longchamp (@claudelongchamp) 28. März 2018
Schon die Gründungsgeschichte dieses Referendumskomitees ist ungewöhnlich. Rougy erzählt, er sei von Sibylle Berg gleich nach der Abstimmung im Nationalrat via Twitter kontaktiert worden. Das könne man doch nicht geschehen lassen, sagte Berg und fragte: Was können wir tun? Die Beziehung zwischen Berg und Rougy beschränkte sich bis dahin auf Twitter. Man sah die Beiträge des anderen, wusste um die gemeinsame Empörung über das neue Gesetz.
Rougy, selbst SP-Mitglied, stellte bald ernüchtert fest, dass weder linke Parteien noch grössere Organisationen – trotz aller Kritik an den Versicherungsspionen – das Referendum ergreifen wollen. Rougy versteht das nicht: «Alle sind krankenversichert, alle können in Zukunft ausgespäht werden.» Für ihn ist klar, dass «sich das Parlament von den Versicherungen kaufen liess».
Alles läuft digital
Berg und Rougy beschlossen: Sie lassen das nicht geschehen. Nach kurzer Recherche stiessen sie auf den Zürcher Anwalt Philip Stolkin, Experte für Versicherungsrecht – und fachlich beschlagener Kritiker des neuen Gesetzes. Stolkin schloss sich dem Komitee an und lässt sich auf «We Collect» mit den Worten zitieren: «Das ist das erste offen verfassungswidrige Gesetz, das in der Schweiz erlassen wurde. Mit deiner Unterstützung können wir es aufhalten!»
Das Trio hat laut Rougy eine Arbeitsteilung vereinbart: «Sibylle Berg kümmert sich um die schönen Worte, ich sorge für den Lärm und Stolkin verfügt über das nötige Wissen.» Sollten die 5000 digitalen Unterschriften zusammenkommen, dann hofft man darauf, dass Parteien und Organisationen aufspringen und beim realen Referendum helfen.
Auch wenn das Referendum scheitern sollte, dürfte der Widerstand gegen die Schweizer Versicherungsspione in die Geschichte der Schweizer Politik eingehen: Ohne Geld, ohne personelle Ressourcen – sogar ohne eine einzige Besprechung hat sich eine politische Bewegung formiert.
Während sich Rougy und Stolkin mittlerweile immerhin einmal physisch getroffen haben, verläuft der Austausch mit Autorin Berg nur über E-Mails und Twitter. Noch nicht einmal telefoniert haben sie. Rougy sagt: «Es ist wirklich alles digital.»