Unser Kolumnist misstraut Worten und auch Menschen, die Lösungen für Konflikte in ein zwei Wörtern formulieren. Dafür bewahrt er sich eine respektvolle Faszination für Doppeldeutigkeiten und Metaphern.
Meine Gutmensch-Kolumne hat Wellen geschlagen. Dieser kurze Satz enthält mindestens ein doppeldeutiges Wort und eine Metapher. Als Wortkünstler bin ich sehr angetan von Metaphern, Doppeldeutigkeiten, Sinn und Sinnlosigkeit dieser Buchstabenhaufen.
«Flüchtlingsstrom» ist auch ein interessantes Konstrukt. Es hat etwas Meteorologisches oder Geografisches. Ein Strom. Ein Naturphänomen: Ein unkontrollierter Fluss, der sich seinen Weg bahnt, Dämme einreisst und – macht man ein Loch auf – von diesem sogartig angezogen wird. Dass es sich bei der Flüchtlingswelle (auch toll) um Millionen einzelner Individuen mit verschiedenen Hintergründen und ganz unterschiedlichen Lebensentwürfen handelt, transportiert dieser Begriff «Strom» nicht.
«Völkerwanderung» wäre für mich ein treffenderes Wort für das, was da passiert. Aber auch das ist nur ein zusammengesetztes Wort, das der Tragweite und Komplexität der gegenwärtigen Phänomene nicht gerecht wird. Trotzdem würde ich die «Völkerwanderung» dem «Flüchtlingsstrom» als Bezeichnung vorziehen. Denn Ersteres verzichtet auf ein anderes trügerisches Wort, das der eigentliche Protagonist dieser Kolumne ist – der «Flüchtling»!
Flüchtling – ein Wort, das man sagt, ohne sich etwas dabei zu denken; bis man doch nachdenkt und den Gedanken nicht los wird, dass dieses Wort bedenklich ist.
Was zum Teufel soll denn das genau sein – ein Flüchtling? Ein Gnom? Eine exotische Tierart? Was zu essen? Flüchtling – ein Wort, das man sagt und schreibt, ohne sich gross etwas dabei zu denken; bis man dann doch mal nachdenkt und den Gedanken nicht los wird, dass dieses Wort bedenklich ist. Versteht mich nicht falsch. Ich verwende das Wort auch oft und mir ist bis jetzt keine knackige Alternative eingefallen.
Aber ich glaube, dass sich nicht einer der über 50 Millionen Menschen auf der Flucht in erster Linie als Flüchtling bezeichnen würde. Er oder sie (was ist eigentlich die weibliche Form von Flüchtling? Die Flüchtlingin? Fluchtfrau?) würde vielleicht eher sagen: Ich bin eine Lehrerin, die gerne Gedichte schreibt, Sneakers sammelt und ihre beste Freundin vermisst. Oder: Ich bin Arzt und Vater von drei Töchtern und grosser Inter-Mailand-Fan. Was er kaum sagen würde: Hallo, ich bin ein junger männlicher Flüchtling.
«Ankauern» im «concentration camp»
Das Wort Flüchtling ist ein fieses Sammelwort, das versucht eine Menschengruppe zu beschreiben, dabei scheitert und noch ein weiteres fatales Handicap hat – es ist negativ behaftet und wird so zum Unheil bringenden Stigma. So richtig bewusst wurde mir dies während meinen paar Tagen mit einer Gruppe freiwilliger Schweizer Helfer auf der griechischen Insel Lesbos. Dutzende Boote und Tausende Menschen sah ich an der griechischen Küste landen. Von Syrien über die Türkei nach Lesbos und somit nach Europa geflüchtet, waren die meisten erleichtert und froh, endlich «in Sicherheit» zu sein. Was viele scheinbar nicht wussten – die Odyssee hatte erst begonnen.
Wir brachten Hunderte Kinder, Frauen und Männer ins Auffanglager Moria (ja genau, wie die Unterwelt in «Herr der Ringe»), ein überfülltes Höllenloch, das in der Fachsprache übrigens «concentration camp» heisst … Hier mussten Tausende Menschen zum Teil tagelang anstehen – beziehungsweise «ankauern» –, um ein für die Weiterreise unerlässliches Dokument zu besorgen.
Der Apotheker, zwei Studentinnen, der Bauer, die im Auffanglager anstanden – sie alle waren dabei ihre Identität zu verlieren. Von nun an waren sie Flüchtlinge.
Mit «ankauern» meine ich, dass die überforderten griechischen Polizisten, um den Überblick über die Menschenmasse zu behalten, alle Anstehenden in die Knie zwangen. Ich erinnere mich, wie ich daneben stand und beschämt auf die kauernden Menschen herunterblickte. Der Apotheker, der Musiker, zwei Studentinnen, der Bauer, Sportler, die junge Familie, eine Gruppe Hipster – einige von ihnen hatten wir persönlich kennengelernt –, sie alle waren gerade dabei, ihre Identität zu verlieren. Von nun an waren sie Flüchtlinge. Ein hartes Schicksal.
Denn ein Flüchtling muss im Freien schlafen, ein Flüchtling kann froh sein, wenn er etwas zu essen kriegt, ab und zu ertrinken ein paar Flüchtlingskinder im Meer – Schicksal. Flüchtlinge müssen im Zaun gehalten werden, in Lagern. Versuchen sie eine Grenze zu überqueren, dürfen sie niedergeknüppelt werden. Flüchtlinge sollten es nicht allzu schön haben, sie können froh sein, wenn sie in der Schweiz in einem unterirdischen Bunker leben dürfen. Das ist immer noch besser als im Krieg und wir mussten ja im Militär auch im Bunker schlafen.
Ein Flüchtling, der sich beschwert – eine absolute Frechheit! Und wozu braucht eigentlich so ein Flüchtling ein Smartphone, bitte? Oder einen Anwalt? Oder dieselben Rechte wie wir Schweizer? Und ist Euch auch schon einmal so eine Gruppe Flüchtlinge am Bahnhof begegnet? Schon furchteinflössend, oder? Jetzt beginnen immerhin einzelne dieser verweichlichten Flüchtlinge zurückzuflüchten. Nur recht so! Wenns ihnen nicht passt – tschüss!
Ein Wort besiegelt das Schicksal von Millionen Menschen. Sie verlieren ihre Identität und werden zu diesem abstrakten Ding.
Merken wir, was hier abgeht?! Diese Menschen flüchten vor Elend und Krieg – sie sind Opfer, auch wenn das ein weiteres zweischneidiges Wort ist. Wenn in Frankreich ein deutsches Flugzeug abstürzt, herrscht europaweit Trauer. Es gibt hashtags und Sondersendungen und die Solidarität ist riesig. Die Angehörigen und Überlebenden werden mit Mitleid und Liebe überschüttet. Wenn Tausende Menschen vor unseren Küsten ertrinken, passiert wenig bis nichts, ja, es gibt sogar Spott und Hohn, weil es eben keine Schweizer oder Deutsche oder Franzosen sind – sondern nur Flüchtlinge, und die sind irgendwie selbst schuld.
Ein Wort besiegelt das Schicksal von Millionen Menschen. Sie verlieren ihre Identität und werden zu diesem abstrakten Ding – zu einem Flüchtling. Immer wieder überlege ich mir Alternativen zu diesem Wort und immer wieder komme ich zum gleichen Schluss. Die momentane Weltlage und unsere politischen und gesellschaftlichen Challenges lassen sich nicht auf ein Wort reduzieren, auch nicht auf zwei oder drei. Sie erfordern unablässigen Dialog und viel Geduld und Offenheit. Deshalb misstraue ich Worten und auch Menschen oder Gruppen, die Lösungen für Konflikte in ein, zwei Wörtern formulieren und bewahre mir eine respektvolle Faszination für Doppeldeutigkeiten und Metaphern.